Sucre und Guadalupe

Von Potosí aus fährt man etwa drei Stunden bis in die Hauptstadt Boliviens: Sucre. Sucre liegt im Gegensatz zu Potosí nur auf etwa 2.800 Höhenmetern. Deshalb ist das Klima dort auch deutlich angenehmer. Als wir allerdings am Freitag, den 14. September gegen Vormittag in die Stadt kommen, hängen dichte, graue Wolken am Himmel. Wir nehmen ein Taxi für 20 Bolivianos vom Terminal in die Innenstadt und machen uns auf die Suche nach unserem Hostel. Wir haben in der „Familienherberge“ von Bertha zwei Doppelzimmer reserviert. Bertha erweist sich als engagierte Gastgeberin. Sie selbst wohnt mit Mann, Kindern und Hund im Erdgeschoss. Im zweiten, dritten und vierten Stock sind die Gästezimmer einquartiert. Bertha hat großartige Neuigkeiten für uns: Wir sind gerade rechtzeitig zum Fest der „Virgen Guadalupe“ nach Sucre gekommen. Um die Schutzpatronin der Stadt zu feiern reisen verschiedene Tanzgruppen aus umliegenden Städten und Provinzen an. Es wird ein großer Umzug durch die ganze Stadt veranstaltet. Am Freitag beginnen die Kinder und Jugendlichen, am Samstag folgen die Erwachsenen. Die Straßen im Zentrum sind abgesperrt, die Autos müssen auf Umwegen fahren, um den Tänzern Platz zu machen. Rechts und links, den Straßen in der Innenstadt entlang fallen Essensstände, wie Regentropfen vom Himmel. Jeder fordert sein Stück Profit vom religiösen Festtag ein. Die Straßenhunde lauern vor den Abfalleimern, Zuckerwatte und Spielzeugverkäufer reihen sich aneinander.
Am Freitag, auf unserem ersten Erkundungsgang ins Zentrum treffen wir mehr oder weniger unfreiwillig auf den Kinderumzug, bleiben aber fasziniert stehen, um die vielen Bands und kostümierten Gruppen vorbeiziehen zu sehen. In Sucre reihen sich schneeweiße Türme an Palmen. Wenn die Sonne scheint erstrahlt die gesamte Stadt in einem hellen, freundlichen Licht. Der zentrale Platz, auf dem selbstverständlich eine Statue des General Sucre steht, ist von einer großzügigen Grünanlage umrundet. Direkt gegenüber befinden sich wichtige Verwaltungs- und Regierungsgebäude. Im Gegensatz zu La Paz hat man in Sucre das Gefühl sich in einer Art Urlsaubsort zu befinden. Trotz der Feierlichkeiten ist nichts von der Hektik und dem Schmutz, den wir in La Paz fanden, und der mich oft schockierte zu finden. Direkt gegenüber des Platzes ist eine mit weißer Spitze verkleidete Vitrine aufgestellt. An diesem Ort soll die Virgen Platz nehmen.
Am Samstag Nachmittag sehen wir uns den Höhepunkt des Festes, den Umzug der verschiedenen Tanzgruppen an. Bertha hat am Vortag dafür extra Plätze für alle reserviert und am selben Morgen noch Stühle angebracht. Jede Gruppe trägt ihr eigenes Banner. Da gibt es Frauen in kurzen Kleidern, die ihre Hüften so sehr schwingen, dass ihre Unterwäsche zu sehen ist; dazugehörige Männer mit Glocken an den Füßen und mit Glitzer besetzen Einteilern. Außerdem die Mineros, die mit Hammer, Meißel, Cocablättern und Helm tanzen, Männer und Frauen in Indigenentrachten, mit bunten Bändern und Hüten; Männer mit Cowboyhüten und Stiefeln, die gemeinsam mit Frauen in Marimbaröcken zu einer Art Flamencomusik tanzen… Die Tänzer aus den Regenwaldregionen tragen Hüte mit hochaufragenden, verschiedenfarbigen Federn und wild aussehenden Masken. Es gibt Verkörperungen des „Tío“, die Teufelsmasken tragen und manche völlig behaarte Gestalten, die bis auf die Pfoten in Anzügen stecken. Die Tänzer und Musiker müssen etwa sieben bis acht Stunden tanzen, bis sie zur Virgen Guadalupe gelangen. Dabei wird die Stimmung mit zunehmender Zeit immer ausgelassener. Zwar ist es in Bolivien eigentlich verboten auf offener Straße Alkohol zu trinken, die Bolivianer sind aber dennoch alle fleißig dabei heimlich Rum in ihre Cola-Flaschen zu mischen.
Am nächsten Tag ist dementsprechend alles ruhig in der Stadt. Nur einige letzte Gruppen von Musikern und Tänzern sind noch immer unermüdlich auf den Straßen unterwegs. Man kann sich nur über ihr Durchhaltevermögen wundern, vor allem wenn man auf die hohen Absätze der Frauen blickt. Die Straßenstände sind plötzlich verschwunden und die Stadt hat ihr ganzes Gesicht gewechselt. Fast erkenne ich die Straßen ohne ihre Absperrungen nicht wieder. Die Tänzer aus fernen Provinzen suchen die ersten Busse um wieder in ihre Heimatstädte zurückzukehren. Das Fest ist aus, die Straßen leer. Sogar das Podest der Virgen Guadalupe ist verschwunden. In welcher der zahlreichen Kirchen sie nun das nächste Jahr abwartet, bleibt uns verborgen. An der Ecke verkauft eine Senora die übriggebliebene Torte vom Vortag.
Wir können uns über so viel Christlichkeit, verbunden mit einer Vorliebe für Tanz, kurze Röcke, Alkohol und indigene Bräuche nur wundern. Aber schließlich sind wir in Bolivien – ein Land, ausgezeichnet durch seine konfuse Mischung an unvereinbar scheinenden Gegensätzen, die man nur langsam zu entschlüsseln lernt.

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