
„Wir sind Andinisten!“
Im Laufe der Pasochoa-Wanderung kristallisierte sich recht bald heraus, dass wir in Saras Augen bereit für die Besteigung des Cotopaxi seien. So kam es also doch noch dazu, dass sich Team Guayas, wie Badman uns zu betiteln pflegte, in den den Kampf mit dem Titan stürzte.
Unsere Reisebüro-fähige Führerin schrieb einige WhatsApps hin- und her und schon war unser Abenteuer geplant: Netterweise fuhr uns Sara direkt in den Cotopaxi-Nationalpark. Dort zelteten wir eine Nacht auf knapp 4.000 Metern, ganz der Anweisung „Tief schlafen, hoch gehen“ meines Berg-begeisterten Chorleiters folgend.
Der Nationalpark punktet mit schier unendlichen Kiefernwäldern und wilden Tieren, die wenig Kontakt zu Menschen haben und somit sehr zutraulich sind. So hatten wir das Glück, einen Fuchs aus nächster Nähe betrachten zu können.
Nach dem wir uns unser Lager eingerichtet hatten und verzweifelt versucht hatten, ein Feuerchen zu machen (Feuer machen bei Nieselregen ist einfach keine gute Idee; da hilft auch der Gasbrenner nicht…) drehten wir noch eine kleine Runde auf einen nahe gelegenen Hügel von dem man einen atemberaubenden Rundumblick hatte. Auch der Titan, der bisher sein Gesicht hinter dichten Wolken versteckt hielt, guckte jetzt mit seinem schneebedeckten Antlitz in die untergehende Sonne.
Im Dunkeln kochten wir unsere Nudeln, die wir mit Thunfischtomatensoße anreicherten. Die Nacht kühlte stark ab, sodass wir uns in gesamter Montur in die Schlafsäcke kuschelten, noch einige Kanons sangen (es war erst acht) und ganze 12 Stunden schliefen.
Am nächsten Morgen frühstückten wir, ich flötete etwas auf meiner Mundharmonika, erklommen nochmals eine andere Anhöhe, die uns schon einen Vorgeschmack auf die Windverhältnisse am Titan geben sollte und warteten auf die restliche Reisegruppe, die sich auf mediodía (Mittag) angekündigt hatte.
Endlich kamen unsere Mitreisenden an: In einem Staub aufwirbelnden geländegängigen Wagen kamen uns Sara und die beiden Guides entgegen. Badman meinte ganz richtig, dass wir mit den Guides wohl die zwei coolsten Typen ganz Lateinamerikas vor uns hatten:
- Juan, mit markantem Kinn, die langen schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, wettergegerbter Haut, und einem Bart, von dem ich nur träumen kann, bestieg schon zum etwa 300sten Mal den Cotopaxi; sein gesamtes Auftreten strahlte Männlichkeit in Reinform aus
- Nico, von eher stämmiger Positur, war Teil des Petzl-Teams Ecuador und hatte gerade eine von Petzl gesponsorte Kletter-Tour im Himalaya hinter sich. Mit Hubschrauber und allem was dazugehört.
Wir waren schwer beeindruckt.
Mit ihnen fuhren wir zur Tambopaxi-Hütte, die wir für unseren ursprünglichen Plan gebucht hatten. Glücklicherweise zeigte sich niemand erbost darüber, dass wir zwecks besserer Akklimatisierung die Reservierung hatten fallen lassen. Die Hütte war sehr geschmackvoll-urig eingerichtet und hatte gute Betten. Inzwischen hatten sich die morgendlichen Wolken verzogen und der Blick auf den Titan und andere umliegende Gipfel vor strahlend blauem Himmel wurde frei.
Nachdem wir uns in der Hütte eingerichtet hatten, machte sich Team Guayas mit Juan auf, um in der Höhe ein wenig zu laufen bzw. die Höhe zu trainieren. So legten wir den ersten kleinen Teil der Gipfelwanderung vom letzten Parkplatz zum Refugio Jose Ribas zurück. In einer Höhe von ca. 4.800 Metern war es heimatlich-winterlich kalt und der steile Aufstieg über ein sandiges Vulkanstein-Geröllfeld war durchaus anstrengend. Leichte Kopfschmerzen machten sich bemerkbar, die sich aber sobald wir uns in der Hütte eine heiße Schokolade gönnten, wieder verzogen. Beim Abstieg rannten wir das Geröllfeld herunter, schlugen Räder und Purzelbäume und hatten großen Spaß.
Nachdem wir unseren Hunger mit einem im Preis inbegriffenen pollo entero (ganzes Hühnchen) gestillt hatten, legten wir unsere Ausrüstung, bestehend aus je einem Rucksack, Wanderstiefel, Handschuhe, Steigeisen, Eispickel, Helm, Stirnlampe, Klettergurt und Seil zurecht und legten uns früh ins Bett, um zwei Stunden zu schlafen und dann gegen 22:30 Uhr für die Gipfelbesteigung aufzubrechen. Die Sonneneinstrahlung in solch großer Höhe ist tagsüber zu gefährlich und auch der Schnee schmilzt und wir matschig, sodass der Aufstieg über den Gletscher zu schwierig wird.
Unter einem beeindruckenden Sternenzelt holperten wir über die schlechte Straße zum Ausgangspunkt der Wanderung. Ich sah eine Sternschnuppe und wünschte mir instinktiv, dass wir alle heil am Gipfel ankommen würden. Ein Bisschen Sorge hatte ich nach der Wanderung am Vortag, die ja nur ein Bruchteil unserer ganzen Tour darstellte und mir schon Kopfschmerzen bereitet hatte, schon.
Am Berg fegte ein eisiger Wind, der einem sobald man stehen blieb, unter die Haut kroch und unaufhörlich an den Nerven nagte. Die geradezu perfekte Kegelform des Titans hat auch zur Folge, dass der Aufstieg zum Gipfel quasi ein permanenter Anstieg ist. Im Licht unserer Stirnlampen kämpften wir uns bis zum Gletscherrand, wo wir uns einige hart gefrorene Riegel reinschoben und die Steigeisen montierten. Anschließend formten wir uns in zwei Seilschaften à drei Personen und machten uns mit den Klettergurten am Seil fest, um vor Gletscherspalten sicher zu sein. Gegen den Wind anbrüllend wies uns Juan ein und erklärte uns, immer mit Eispickel zur Hangseite und mit dem Seil zur Talseite zu laufen.
Ein letztes Durchschnaufen und wir warfen uns wieder in die Schlacht. Immer wieder tauchten erstaunliche Eisgebilde und -gebäude neben uns auf. Die Seilschaft mit Nico, Sara und Badman war schneller als meine mit Juan, Simon und mir. In langsamem Tempo kämpften wir uns Schritt für Schritt vorwärts, der Mundschutz vereiste und ich fragte mich immer wieder: „Was tu‘ ich hier nur?! Es ist kalt, windig und eigentlich auch nicht schön.“
Simon klagte über Rückenschmerzen, die dazu führten, dass er nicht mehr gut atmen konnte und bei mir stellten sich nach und nach Kopfschmerzen ein. Außerdem fielen mir immer wieder die Augen zu, auch ein Symptom der Höhenkrankheit. Oft stand ich vor dem Konflikt, umzudrehen und den Gipfel zu verfehlen, Schwäche zu zeigen, die $ 310 umsonst gezahlt zu haben und Team Guayas zu verraten oder die Zähne zusammenzubeißen, die paar Stunden alles zu geben und mit dem Gipfel und dem Blick in den Krater belohnt zu werden. Immer wieder dachte ich: „Das ist doch alles nur in deinem Kopf, einfach nicht denken!“
Bei einer kurzen Verschnaufpause auf ca. 5.400 Metern sagte mir Simon, dass er kurz davor sei umzukehren. Ich war hin- und hergerissen, das Kopfweh hatte einen Höhepunkt erreicht, schließlich wir einigten uns dennoch, es noch ein Stück zu probieren.
Wieder stieß ich die Steigeisen ins Eis und mit einem Mal schmeckte ich Galle. Panikartig rief ich: „No puedo más!“ (Ich kann nicht mehr!) und Juan, der gleich verstand, antwortete: „Sí, vomita!“ (Ja, kotze!). Anscheinend soll es, nach dem man erbrochen hat, besser weitergehen. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich nicht darauf aus war, es soweit auszureizen und so machten wir uns mit gedämpfter Stimmung auf den Rückweg. Als wir nach dem Gletscher die Steigeisen abnahmen, musste ich mich tatsächlich noch übergeben.
Nach und nach kroch die Sonne hervor und beschien den siegenden Titan schadenfroh mit rötlichem Licht – welch Niederlage!
Auf dem Rückweg im Auto schlief ich trotz starken Geschüttels unmittelbar ein. In der Hütte schlief mich aus bis die Siegergruppe ankam. Badman erzählte, dass er sich zwischendrin nicht mehr wie ein Mensch gefühlt habe und die Aktion das Anstrengendste war, was er je erlebt habe. Oben auf dem Gipfel muss trotzdem ein ganz besonderer Spirit geherrscht haben. Alle, auch fremde Bergsteiger – in der Nacht war ganz schön was los am Berg – umarmten sich und der Blick über das Wolkenmeer, das nur die höchsten Gipfel, so z. B. den Chimborazo freiließ, muss fantastisch gewesen sein. Badman weinte.
Den restlichen Tag verbrachten wir damit, zurück ins Haus der Familie Alvarez zu kehren, uns auszuschlafen, ein Busticket für die Übernacht-Heimfahrt zu lösen, was sich als schwieriger als erwartet herausstellte, da es der Vorabend zu Weihnachten war, an dem viele Ecuadorianer reisen wollten. Außerdem gingen wir Weihnachtsgeschenke für unsere Guayaquiler Gastfamilien kaufen (Gruppenbilder im Bilderrahmen) und lernten auf den letzten Drücker Jose kennen, der so etwas wie eine Kopie von seines Bruders Andres war. Nur, dass der eine berg- und der andere salsaverrückt war. Nach der letzten Billiardrunde gaben wir zum Abschied „What a Wonderful World“ von Louis Armstrong zum besten und überreichten folgendes Foto:

V.l.n.r.: Meine Person, Badman, Juan, Nico, Sara, Simon
Fazit
Die Tour war ein einziger Kampf, der Cotopaxi bleibt ein unbezwingbarer Titan, ich verneige mich ehrfürchtig vor ihm. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich nicht so viel Geld ausgegeben… Alles andere drumherum war aber sein Geld wert. Und immerhin habe ich Gletschererfahrung gesammelt und ich war auf 5.400 Metern, einen solchen Hügel muss man in good old Europe erst mal finden. Bergsteigen in einer solchen Höhe ist wohl eine Spur zu hart für mich, mir liegt aber nichts ferner, als jetzt den Kopf in den Vulkansand zu stecken und dem Sport dem Rücken zu kehren. Keine Sorge!
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