Dahoam is dahoam

Ich warte am Busterminal in Guyaquil auf ein Taxi, nachdem ich mal wieder von einer Reise zurückgekehrt bin. Ein hilfsbereiter Herr spricht mich an und will wissen, was mein Ziel ist – als ich „Guasmo Sur“ sage, stellen sich ihm buchstäblich die Haare auf. „Guasmo Sur? En Serio? Es peligroso!“ Fast will er mich nicht gehen lassen. „Es peligroso!“, ruft er mir noch einmal hinterher.

Solche und ähnliche Erfahrungen machen wir Freiwillige häufig, wenn wir erzählen, wo wir in Ecuador wohnen. Selbst in Playas oder Cuenca will man es uns kaum glauben, dass wir tatsächlich aus dem Guasmo kommen. Der Guasmo gilt als eines der gefährlichsten Viertel in Guayaquil, was auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Sein Ruf wird geprägt von Überfällen, Drogen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Manchmal haben wir Probleme, ein Taxi zu finden, das uns nach Hause bringt – manche Fahrer wollen gar nicht, andere nur zu Wucherpreisen in den Guasmo.

Dieser Ruf kommt nicht von ungefähr. Letztens gab es auch hier im Gebiet um die Musikschule wieder vermehrt Überfälle, wobei die Täter offenbar selten aus der direkten Umgebung stammen. Als Jenny mit letzte Woche am Dienstagabend erzählte, um die Ecke sei gerade jemand umgebracht worden, hielt ich das erst für einen Scherz – doch tatsächlich war in der Straße nebenan ein Mann erschossen worden. Vom Dach der Musikschule beobachteten wir die Menschenmenge, die sich um den toten Körper scharte. Sicherheitshalber blieben wir ein bisschen länger im abgesperrten Gebäude, ehe wir den gemeinsamen Heimweg zu den jeweiligen Häusern antraten. Tags darauf kam der Mord in den Nachrichten – mit Aufnahmen aus dem Guasmo und einer Computersimulation, wie die Tat wohl abgelaufen war. An der Stelle, an der der Mord passierte, gehe ich jeden Tag vorbei.

Dennoch habe ich mich in meiner Zeit hier noch nie wirklich unsicher gefühlt. Zwar durfte ich in den ersten Wochen noch nicht alleine raus, vor allem nicht bei Dunkelheit, aber mittlerweile kenne ich die Leute hier – und sie kennen mich. Wenn ich von meinem Haus zur Musikschule gehe, werde ich alle paar Meter von Anwohnern begrüßt. Generell ist es einfach wichtig, sich an gewisse Regeln zu halten, um Gefahr zu vermeiden oder wenigstens auf ein Minimum zu beschränken. Wertvolle Gegenstände sollte man nicht unbedingt durch die Gegend tragen, nachts ist man besser in Gruppen unterwegs. Seit dem Mord letzte Woche bin ich etwas aufmerksamer geworden, wenn sich ein Auto von hinten nähert. Mit der Zeit kennt man auch die Straßen und Wege, die man lieber nicht so oft benutzt. Normalerweise ist der Teil des Guasmo, in dem ich wohne, aber relativ sicher – vor zwanzig Jahren muss das noch ganz anders ausgesehen haben, erzählt mir mein Freund Allan. Es habe Bandenkämpfe gegeben, quasi täglich Schießereien. Zum Aufschwung hat offenbar auch Mi Cometa, also die Organisation, für die ich arbeite, beigetragen – mit vielen verschiedenen Projekten, wie zum Beispiel der Musikschule. Dass Drogen immer noch nicht vollständig aus dem Guasmo verschwunden sind, merkt man natürlich – man sieht auch oft Obdachlose oder reglose Männer, die betrunken am Straßenrand liegen. Heute kann man sich aber frei bewegen, ohne fürchten zu müssen, dass einem hinter jeder Ecke jemand auflauert.

Ein für mich viel sichtbareres Problem als die Kriminalität ist der Müll. Wohin man auch schaut, überall liegen Abfall, Verpackungen, Plastiktüten und alles Mögliche auf der Straße. Gestern habe ich gesehen, wie ein kleiner Junge einen Saft getrunken hat, die Flasche absetzte und in den offenen Abwasserkanal am Straßenrand warf. Zwar gibt es durchaus eine Müllentsorgung, die auch gut funktioniert, doch in der Bevölkerung hier scheint einfach kein Bewusstsein für diese Thematik vorhanden zu sein. Da schmeißt der Taxifahrer nach dem Konsum eines Wackelpuddings die Plastikverpackung einfach aus dem Fenster. Da bekommt man in jedem Laden für jeden – pardon – Scheiß eine Plastiktüte. Da gibt man Knochenreste und ähnliches einfach den Straßenhunden – und wenn kein Hund kommt, bleibt der Abfall eben liegen. Das schaut nicht nur unschön aus, sondern sorgt auch für ein olfaktorisch – nun ja, interessantes – Erlebnis bei einem Spaziergang durch den Guasmo. Hygienisch ist diese Art, mit dem Müll umzugehen, auch nicht besonders – genauso wie Abwasser oft einfach auf die Straße entleert wird.

Der Umgang mit dem Müll ist kein exklusives Problem des Guasmo – in großen Teilen Ecuadors sieht man sich ständig von Plastikabfall umgeben. In Mompiche haben Vincent und ich mit einem gefundenen Behälter Plastik am Strand aufgesammelt – was allerdings nur möglich war, da das Sammeln dort wenigstens noch sinnvoll schien. An der Küste scheint es generell besser zu sein – in Manabí habe ich sogar ein Plakat gesehen, das die Leute aufforderte, ihren Lebensraum nicht zu verschmutzen. In den Großstädten dagegen kümmern sich die Menschen wenig darum – die Verkäufer in den Läden sind immer ganz verwirrt, wenn wir insistieren: „Sin funda, gracias, no necesitamos un funda!“ – also keine Plastiktüte wollen. Grundsätzlich wird alles doppelt und dreifach verpackt – das soll wohl hygienischer sein, sorgt aber nur für noch mehr Müll. Immerhin gibt es immer mal wieder positive Überraschungen, beispielsweise Mülltrennung in einem Park in Quito. Als ich die drei Abfalleimer sehe, bin ich ganz begeistert. Und hoffe, dass der Müll nicht hinterher wieder vermischt wird…

Am Freitag vor einer Woche waren wir übrigens bei der kleinsten Demonstration, die ich bisher gesehen habe – vor dem Regierungsgebäude in Guayaquil hatten sich ein paar Menschen versammelt, um gegen den Umgang mit dem Klimawandel und die Ressourcenverschwendung zu protestieren. Selbst nach Ecuador hat es „fridays for future“ geschafft. Viel mehr als neunzig, hundert Leute waren nicht zusammengekommen, doch davon ließen wir uns nicht entmutigen und marschierten tapfer mit – im Kreis, denn für mehr waren wir zu wenig Teilnehmer. „No plastico! No plastico!“, wurde unter anderem immer wieder skandiert.

Spaziert man durch den Guasmo, fällt einem nicht nur der viele Plastikmüll auf – auch die Lautstärke ist eine ständige Begleitung. In vielen Straßen wird man aus allen Richtungen von Musik beschallt: Die Leute stellen ihre Boxen vor ihr Haus und drehen maximal auf. Und gefühlt ist es immer die gleiche Musik. Gewisse Songs kann man nach ein paar Wochen einfach nicht mehr hören… Olivias Nachbarn machen grundsätzlich jede Nacht fiesta, an Schlaf ist da oft nicht zu denken. Ab vier Uhr früh fangen außerdem die Hähne an zu krähen, die allerdings offenbar ein sehr schlechtes Zeitgefühl besitzen und sich an keine Regelmäßigkeit halten. Davon wache ich übrigens nicht auf, dagegen bin ich längst abgehärtet. Eher noch sind es die Obst-, Gas- oder irgendwas-Verkäufer mit ihren Tretwägen, die morgens mit ihrem Geschrei meinen Schlaf beenden. Manchmal ist man da schon ganz froh, am Wochenende wegzufahren und ein bisschen Ruhe zu bekommen. Aber gleichzeitig gehört die Geräuschkulisse auch einfach zum unverwechselbaren Charakter des Guasmo.

Die Häuser des Guasmo sind sehr verschieden. Nicht nur gibt es alle möglichen Farben zu sehen, auch unterscheiden sich die Bauten sehr an Größe und Qualität. Eher wenige Häuser besitzen mehr als ein Stockwerk, dafür ragen diese dann aber deutlich heraus. Manche Grundstücke haben eine Mauer, andere einen kleinen Garten, manche Eingänge kann man nur über eine Leiter erreichen, wieder andere über eine Planke, die den Abwasserkanal überbrückt. Manche Häuser schauen im Vergleich richtig gemütlich und wohnlich aus, viele sind jedoch nur graue Klötze mit Fenstern. Das Haus meiner Familie würde ich so in die „Mittelklasse“ einstufen – wir haben nur ein Stockwerk und weder Garten noch Garage, aber die Fassade ist gestrichen und das Wellblechdach ist intakt.

Wenn man eines der Häuser betritt, fällt einem meist sofort ein großer Flachbildfernseher auf. Egal wie alt der Boden oder wie ranzig die Wände, einen Fernseher besitzt fast jede Familie. Oft ist der Bildschirm das wichtigste Objekt im ganzen Zimmer. Doch damit nicht genug; viele Familien haben Netflix, einen Computer, Spielkonsolen und die neuesten Handys, Internet sowieso. Für mich ist das immer noch schwer zu verstehen – die technische Ausstattung ist besser als in manchen Häusern in Deutschland, dafür fehlt es auf der anderen Seite an grundlegenden Dingen – zum Beispiel Privatsphäre, da die Wände nicht bis zur Decke gehen. Mir scheint es oft, als hätten die Menschen hier andere Prioritäten als in meinem bisheriges Umfeld. Einerseits kann ich das schon verstehen – gerade in einem weniger entwickelten Land möchte man vielleicht die gleichen Sachen haben wie die Menschen in beispielsweise Deutschland und den USA, außerdem ist der Fernseher oft die einzige Beschäftigungsquelle. Andererseits befremdet es mich, dass man den Kindern lieber singende Puppen und Elektrozeug für teures Geld kauft als Bauklötze und Puzzles. Oder dass Geld für Internetserien da ist, es aber für den nächsten Einkauf auf dem Markt oder Krankenhausbesuch knapp wird. Ich bin vorsichtig mit Urteilen, weil ich natürlich nur auf meine eigenen Eindrücke und die der anderen Freiwilligen zurückgreifen kann, aber manchmal kommt es mir so vor, man wolle hier um jeden Preis westlich sein und vergesse dabei ein wenig, was eigentlich wirklich wichtig ist. In meinem Haushalt gibt es beispielsweise meines Wissens nach kein einziges Buch. Droht Langeweile, wird einfach der Fernseher eingeschaltet. Und ein Bekannter nimmt für alle zehn Meter sein Motorrad, statt zu Fuß zu gehen.

Trotz dieser teils seltsamen Relationen sind die meisten Menschen, die ich kenne, auf jeden Fall vernünftige Leute. Ich kenne keinen Freiwilligen, bei dem im Haus das Essen knapp wird – grundsätzlich können die meisten Leute schon mit Geld umgehen. Obwohl viele Eltern sehr jung sind, verstehen sie es, für ihre Kinder zu sorgen. Und bei Großprojekten hilft man eben zusammen: Im Januar haben wir Freiwilligen mit ein paar Ecuadorianern zusammen das Haus von Allans Familie gestrichen – die grün-weiße Fassade lässt das ganze Haus viel schöner aussehen als das alte, wässrige Grau.

In meinem Haus lebe ich eigentlich nicht viel anders als in Deutschland. Wasser trinkt man natürlich nicht aus dem Wasserhahn, sondern aus großen, blauen Behältern, die man in jedem Laden kaufen kann. In jedem Zimmer steht zudem ein Ventilator, da die Hitze sonst einfach nicht auszuhalten. Für die Wäsche haben wir eine Waschmaschine, die allerdings nicht immer funktioniert – ich gebe meine Kleidung deswegen oft José mit, der sie bei sich zuhause waschen kann. Die Fenster sind vergittert, die Tür auch; das ist Usus hier. Was mich manchmal ein bisschen stört, ist der starke Geruch nach Hund – wir haben drei Hunde, die nie das Haus verlassen. Im Guasmo gibt es zwei Arten von Hunden: Straßenhunde, denen man alle paar Meter begegnet, und Haushunde, die tatsächlich ihr ganzes Leben drinnen verbringen. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber diese Art von Hunden wird nicht nach draußen gelassen und soll wohl mehr als Wachhund fungieren. Unsere drei Exemplare sind etwa im Waschraum eingesperrt oder laufen frei durch die Wohnung – wo sie natürlich auch ihr Geschäft verrichten. Spaziert man durch den Guasmo, sollte man übrigens nicht allzu sehr erschrecken, wenn man plötzlich von oben angekläfft wird – einige Leute halten ihre Hunde auch auf dem Dach. Da haben schon einige Freiwillige einen leichten Schock bekommen…

Ein wenig fragwürdig finde ich die gesellschaftliche Einstellung der Leute hier – nicht die unserer Freunde, aber die der älteren Generationen. Deren Konservatismus sieht so aus, dass es offenbar in Ordnung ist, betrunken Frauen zu belästigen, als Mann den ganzen Tag oberkörperfrei zu sein, oder dass kleine Kinder Sex- und Vergewaltigungsszenen im Fernsehen anschauen. Was dagegen überhaupt nicht geht, ist, dass zwei junge Leute, die ein Paar sind, sich im selben Haus aufhalten – oder gar im selben Zimmer. Im Fernsehen werden ständig leicht bekleidete Damen oder gewalttätige Szenen gezeigt, im realen Leben ist jede Umarmung und jeder Kuss ein schlechtes Vorbild für die kleinen Kinder. Interessanterweise gibt es hier anders als in Deutschland, das eine sehr offene Gesellschaft hat, große Probleme mit zu jungen Müttern. Viele Frauen bekommen mit 17 ihr erstes Kind… Da sollte man vielleicht mal drüber nachdenken.

Als Frau sollte man sich übrigens bestmöglich ein metaphorisches dickes Fell zulegen, bevor man zu Besuch kommt – Hupen und Hinterherpfeifen sind hier an der Tagesordnung. Generell ist bei vielen Männern ein mehr oder weniger ausgeprägter Chauvinismus zu beobachten. Ein Extrembeispiel: In Ecuador kommt es öfters zu Gewalttaten, bei denen ein Mann seine Ex-Frau attackiert, weil sie nach der Scheidung mit einem anderen Mann zusammen ist. Solch abstruse Denkweisen sind also noch verbreitet, auch wenn meiner Einschätzung nach gerade ein Wandel vonstatten geht – auch weil es viele Organisationen gibt, die Projekte für Frauenrechte vorantreiben und Frauen selber für ihre Rechte eintreten. In Clave de Sur zum Beispiel haben wir ein absolut gutes Miteinander und alle haben Respekt voreinander. Egal ob Mann oder Frau.

Schon bei der Rückkehr von einer meiner ersten Reise hatte ich das Gefühl, heimzukommen. Und dieses Gefühl ist gewachsen: Trotz aller Probleme, die es hier unbestritten gibt, ist der Guasmo zu so etwas wie meinem Zuhause geworden. Einen großen Anteil daran hat meine Gastfamilie, die mich von Anfang an wie einen zusätzlichen Sohn behandelt hat. Da ist meine Mutter Filadelfia, die den Haushalt schmeißt; meine Tante Eladia, eine sehr süßte alte Dame; meine Großmutter Olinda, die ich jeden Morgen ihren Rollstuhl hebe. Da sind meine Brüder Leonardo, José Luis und Jairo – von Letzterem habe ich vor Kurzem eine Nachricht bekommen (er spricht ein paar Worte Deutsch):

Wenn ich Erheiterung brauche, spiele ich einfach dieses Audio ab 😉

Guayaquil ist bestimmt nicht die schönste Stadt Ecuadors, aber sie ist zu meiner zweiten Heimatstadt geworden. Die Fahrten zum Zentrum; die Hilfsbereitschaft der Menschen in der metrovía, wenn man wieder den Überblick verloren hat; das Busterminal im Norden der Stadt; und eben Guasmo Sur – wo mich der Herr vom Terminal nicht hinlassen wollte. Ich bin der Robin, und hier bin ich daheim.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.