In meinen ersten Wochen in Ecuador musste ich, wenig überraschend, feststellen, dass der Tag auch hier nur vierundzwanzig Stunden hat. So müssen die vielen Dinge, die man unbedingt alle erleben will, eben auf diese vierundzwanzig Stunden aufgeteilt werden. „Keine Minute Langeweile“ lautete das Motto. Etwas mehr als drei Wochen bin ich nun in Ecuador – doch es fühlt sich an, als wäre ich seit Monaten hier. Denn was ich schon alles erlebt habe, könnte gleich mehrere Tagebücher füllen.
Nach der ersten Unterrichtswoche und einem Besuch des Stadtzentrums von Guayaquil ging es am Morgen des 3. November spontan zum Busterminal. Zusammen mit Olivia, Jenny, Miriam, Hannah und Maïa, alles Freiwillige in Clave de Sur, wollte ich das Wochenende nutzen, um das schöne Land wieder ein bisschen zu bereisen. Wir fuhren also mit der metrovía, dem öffentlichen Bus, zum Terminal und schauten uns dort nach einem Reiseziel um. Letztlich bekam „Strand“ deutlich mehr Stimmen als „Berge“, und so fuhren wir mit dem Bus etwa zweieinhalb Stunden nach Santa Elena.
Dort verbrachten wir zwei entspannte Tage, in denen wir viel badeten, sangen, joggten und das Ufer erkundeten. Außerdem versuchten wir, möglichst viel Spanisch zu sprechen – auch untereinander. Das war unterhaltsamer und gleichzeitig verbesserten wir uns in der Sprache. Sonst war auch viel Englisch dabei – Maïa nämlich kommt aus Los Angeles, sie ist mit einer anderen Organisation in Guayaquil. Die multilinguale Atmosphäre reicherte ich natürlich noch mit ein paar Wörtern Bayrisch an…
Am nächsten Nachmittag mussten wir auch schon wieder die Heimreise antreten – was nicht ganz einfach war, denn nach dem verlängerten Wochenende wollten nicht nur wir zurück nach Guayaquil. Irgendwie schafften wir es aber in einen Bus und kamen noch vor der Dunkelheit wieder in unserer Stadt an. Nach kleineren Irrungen und Wirrungen – die Busfahrpläne sind in Guayaquil etwas unübersichtlich – schafften wir es schließlich sogar nach Hause. Am Terminal hatte ich vorher noch die Amerikaner wiedergetroffen, denen Vincent und ich bei der letzten Reise begegnet waren – so groß scheint Ecuador wohl dann doch nicht zu sein…
Tags darauf starteten wir wieder in den Musikschulalltag. Ein normaler Wochentag beginnt für mich meistens um etwa acht Uhr früh, wenn ich aufstehe und mich zum Joggen fertigmache. Gemeinsam mit ein paar anderen Freiwilligen – manche sind öfter dabei, manche weniger oft – geht es dann zum Park „Stella Maris“, der mehrmals umrundet wird, bevor ich zurück zu meinem Haus laufe und mich erst einmal unter die Dusche stelle. Einmal wurden Vincent, Nicolas und ich auf dem Rückweg von einem fußballbegeisterten Ecuadorianer angesprochen, der gar nicht mehr damit aufhören wollte, uns deutsche und französische Fußballspieler aufzusagen. Amüsant war dabei besonders seine Aussprache der Namen „Schweinsteiger“ und „Augenthaler“.
Um etwa halb zehn mache ich mir Frühstück – zugegebenermaßen die Mahlzeit am Tag, auf die ich mich am wenigsten freue, kommt das „Brot“ hier doch meiner Meinung nach nicht im Ansatz an das daheim heran. Macht aber nichts, Hauptsache man wird satt – und so geht es dann um zehn Uhr los in die Musikschule.
Dort habe ich gleich meine erste Unterrichtsstunde, wenn mein Schüler kommt – oder sollte ich lieber schreiben, „falls“? Clay jedenfalls nimmt die Anwesenheit offenbar nicht ganz so ernst wie andere Schüler… Es gibt aber auch sonst genug zu tun; Noten durchschauen, Unterricht vorbereiten, sich mit den anderen Lehrern austauschen. Um zwölf ist dann eigentlich Mittagspause, nur montags findet noch eine Reunión der Freiwilligen statt. Dort wird besprochen, was in der Woche ansteht, ob es Wünsche oder Beanstandungen der Eltern der Schüler gibt, und wie es uns in den Familien geht. Danach schlendere ich zurück nach Hause, wo es Mittagessen gibt – hatte ich schon mal erwähnt, dass meine Gastmutter eine tolle Köchin ist?
In der Mittagspause ist es meistens zu heiß, um wirklich etwas Sinnvolles zu tun. Im Optimalfall schaue ich im Internet nach neuen Noten für meine Schüler, die ich dann in der Musikschule ausdrucken kann, antworte auf Nachrichten aus Deutschland oder schreibe an einem Blogartikel. Oft mache ich aber auch einfach Siesta oder gehe mit anderen Freiwilligen in den Park. Um kurz vor drei Uhr nachmittags mache ich mich wieder fertig – man duscht hier zum Beispiel auch gerne mehrmals am Tag – und gehe wieder zur Musikschule. Das darf ich mittlerweile alleine; zu Beginn wurde ich immer noch von einem meiner Gastbrüder begleitet. Irgendwann hat mir José Luis gesagt, wenn es für mich kein Problem sei, könne ich ab jetzt auch alleine gehen – und für mich ist es kein Problem, weil der Weg wirklich nicht weit ist und ich mich sicher fühle. Nachts ist man immer in Gruppen unterwegs, aber tagsüber muss man auch allein keine Angst haben.
Mein Stundenplan hat sich im Laufe der Wochen mittlerweile deutlich geändert – mittlerweile bin ich auch ganz froh, wenn ich mal eine Stunde Pause habe. Gerade der Unterricht mit den Anfängern an der Geige sind mitunter recht anstrengend. Aber es macht Spaß, wenn man sieht, wie die eigenen Schüler Fortschritte machen – besonders von meiner Klavierschülerin Tiffany bin ich ganz begeistert. Dienstagabends findet außerdem ein Geigenensemble statt, dass von Paúl geleitet wird – wir üben gerade am Tanz der Zuckerfee aus Tschaikovskys Nussknacker.
Am Abend, wenn es nicht mehr so heiß ist, wird manchmal Fußball gespielt – eine sehr interessante Variante von Fußball, in der man den Ball wegen der schwachen Beleuchtung kaum sieht und es mehr um Körpereinsatz statt Taktik geht. Trotzdem macht es großen Spaß, ich habe selbst schon mehrere Tore geschossen. Immer ein lustiger Moment: Wenn zum Beispiel eine Mutter mit Kinderwagen den Fußballplatz überqueren will, wird das Spiel sofort unterbrochen und alle heißblütigen Angriffe kommen zum Stillstand. Hat die Mutter den Beton verlassen, werden die Emotionen auf dem Spielfeld wieder eingeschaltet und der Kampf geht weiter. Die Zeit vergisst man während des Spiels völlig, das Bedürfnis zu schlafen hat man erst am Morgen danach…
Immer wieder unterbrechen auch andere Ereignisse den Alltag. Am 7. November zum Beispiel gibt es eine Überraschungsparty für Miriam, in deren Geburtstag wir hineinfeiern. Es wird cerveza getrunken, Salsa getanzt und Kuchen gegessen – frisch gebacken ein paar Stunden zuvor. Einen Tag später wollen Paúl, Hannah, Sarah, Maïa und ich im Teatro Centro de Arte den Geiger Alexander Markov sehen – doch da sind wir nicht die einzigen. Der Besucherandrang ist so groß, dass schon bei unserer Ankunft zwanzig Minuten vor Konzertbeginn die Türen verschlossen sind. Und dabei stehen vor dem Konzerthaus nochmal so viele Menschen, dass man einen ganzen Saal füllen könnte… So geht es eben wieder zurück, und wir hatten immerhin einen Ausflug in die Stadt samt dreiviertelstündiger Taxifahrt mit sechs Passagieren plus Fahrer in einem Auto. So macht man das hier…
Am Freitag in der Früh startet die Integrationsreise für alle Mitarbeiter der Musikschule. Alle Freiwilligen sind dabei, und einige Ecuadorianer wie Marcos, Allan, Diego, Gary, Juleisy, Maherly, und Jorge. Ich stehe zum vereinbarten Treffpunkt um sechs Uhr früh an der Musikschule – es hieß, dass alle pünktlich sein sollten. Nach einer Viertelstunde kommen ein paar andere Freiwillige dazu, der erste Ecuadorianer kreuzt nach etwa dreißig Minuten auf. Los geht es letztlich um kurz nach sieben. Das mit dem Zeitverständnis muss ich wirklich noch lernen…
Die Reise selbst wird ein voller Erfolg. Wir fahren mit Bus und Dschungel-Taxi zu einer Unterkunft in der Nähe von Zhagal. Das Haus steht direkt neben einem kleinen Fluss, rundherum nur Bäume und Kokospflanzen. Wenn wir auf dem Gelände umhergehen, sollen wir immer einen Stock haben, wegen der Schlangen… auch deshalb setzen wir uns erst einmal unter das Zeltdach (es regnet ein wenig) und machen Musik. Mit dabei sind auch Tanja und Daniel, zwei Freiwillige aus Olón, mit denen wir uns am Terminal in Guayaquil getroffen haben.
Insgesamt werden die drei Tage meine unterhaltsamstes, aber gleichzeitig matschigstes Wochenende seit Langem. Der ständige Nieselregen macht die Erde zur Schlamm und den Weg von A nach B zur Schlitterpartie. Außerdem schmücken wir uns während der Reise mit Mückenstichen am ganzen Körper…
Am Samstag verbringen wir den halben Tag an den heißen Quellen, zu denen wir mit einem Pick-Up durch den Dschungel gefahren werden. Die Außentemperatur ist angenehm kühl, weil die Wolken die Sonne verdecken und es immer wieder regnet. Die natürlichen Pools sind deshalb wie eine wunderbare Badewanne zur richtigen Zeit. Später, wieder in unserer Unterkunft, machen wir noch Kakao und grillen Yucca. Und weigern uns natürlich, mit der Dunkelheit ins Bett zu gehen. Wenn die vierundzwanzig Stunden schon im Normalfall nicht reichen, dann in Zhagal erst recht nicht. Es gibt so viele interessante Gespräche zu führen, so viel Musik zu hören – da ist das Bett eher eine langweilige Alternative. Betten gibt es übrigens nicht wirklich genug; ich selber teile mit mir Vincent und Nicolas ein Doppelbett. Damit wir alle draufpassen, legen wir uns quer hin – die Beine baumeln dabei eben in der Luft. Kein Problem – für die paar Stunden Schlaf würde sich eine bequeme Position sowieso nicht lohnen…
Zurück in Guayaquil steht dann noch ein Abschied an: Vincents Zeit in Ecuador ist zu Ende, er fliegt mit Rucksack und Gitarre zurück nach Deutschland. Seine Gastfamilie kommt mit dem Auto und bringt sein Gepäck, wir verabschieden uns alle herzlich und winken bis zum letzten Augenblick. Nun geht es also ohne meinen Reisekumpan weiter… aber spätestens beim Nachbereitungsseminar werden wir das „Liebchen aus Lützelflüh“ wieder anstimmen. Und die Jogger-Ehre werde ich hochhalten, das verspreche ich dir, Vincent! Auch wenn niemand von uns nach dem Joggen im Park so toll Yoga, Spagat und Handstände machen kann.
In der Tat fühlt sich das erste Mal Joggen ohne Vincent am nächsten Morgen gleich ganz anders an. Trotzdem ist das der beste Start in den Tag – und in die neue Woche. Keine Müdigkeit vorschützen, ist die Parole, auch wenn eigentlich ein bisschen Schlaf von Zhagal nachgeholt werden müsste… aber auf den kann man hier wohl am ehesten verzichten. Irgendwie muss man ja alles in den 24 Stunden unterbringen…
Als kleines Schmankerl hier noch die Aufnahme von „Mein Liebchen lebt in Lützlflüh“: