30. Mai 2016
Ich sitze mit Elise im Bus nach Bogota, Kolumbien. Es ist dunkel und kalt. Draußen regnet es und immer wieder erhellen riesige Blitze den schwarzen, sternenfreien Himmel.
22 Stunden Fahrt haben wir insgesamt vor uns. Viel Zeit zum Nachdenken. Es ist wirklich kalt. Ich ziehe mir meine Mütze tief über beide Ohren. Vorhin lief ein trauriger Hollywood-Film. Ich glaube, das ist der erste Busfilm, den ich in Südamerika sehe, der nichts mit Gewalt, Krieg oder Horror zu tun hat.
Einmal läuft der Busbegleiter aus Sicherheitsgründen filmend durch den Bus. Überfälle sind nicht alltäglich, aber auch nicht absolut ausgeschlossen. Mehrmals steigt Polizei ein, einmal wird von Elise und mir als die eindeutig einzigen Gringas der Reisepass verlangt. Der Polizist, große Knarre am Gürtel und strenger Blick, starrt für unseren Geschmack ein wenig zu lange auf unsere Pässe. Dass nur wir kontrolliert werden, ist wohl normal. Er steigt wieder aus. Durch die offene Tür kam ordentlich viel kalte Luft hinein. Meine Hände sind eiskalt. Die Fahrt geht weiter.
Ich bin in der Nacht zuvor schon 10 Stunden von Guayaquil nach Ibarra gefahren, am folgenden Tag haben wir dann zusammen die ecuadorianisch-kolumbianische Grenze überquert, einige Busfahrten, kurze Taxifahrten, Anstehen für den „Salida“- und „Entrada“-Stempel hinter uns gebracht. Sind hundert mal angesprochen worden, ob wir Geld wechseln wollen, ob wir ein Taxi brauchen.
Nein, danke.
Wir kommen so zurecht.
Manchmal ist es anstrengend, als europäische bzw. helle Mädchen durch die Straßen zu gehen. Wenn man alleine unterwegs ist, wird man durchgehend angestarrt, angepfiffen, angesprochen und im Zweifelsfall ziemlich abgezockt. Es hilft, Spanisch sprechen zu können. Aber das Aussehen verrät trotzdem immer, dass man letztendlich Fremder ist, ein Reisender.
Ich sitze also in einem kalten, unbequemen Bus, vor uns noch viele Stunden Fahrt, mein Körper alles andere als begeistert, und ich frage mich:
Warum reisen wir eigentlich?
Warum nehmen wir all diese Strapazen auf uns, zwängen uns in enge, unbequeme, kalte Auto-, Bus-, Bahn- oder Flugzeugsitze, nehmen Reisestunden über Reisestunden in Kauf, verlassen unsere Heimat, unsere Familie und Freunde, unseren Alltag, unser Zuhause?
Was ist der Reiz an einfachen Hostel-Betten, billigem Straßenessen, ewig langen Spaziergängen zu Sehenswürdigkeiten, langem Anstehen, überfüllten Plätzen, kurzem Kennenlernen von wunderbaren Menschen, die man manchmal Minuten, Stunden oder Tage später wieder verlassen muss und nie wiedersehen wird?
Und dann bezahlen wir für den ganzen Spaß auch noch?
Ich rede hier nicht von Urlaub. Urlaub bedeutet für mich eher eine kurze Auszeit vom stressigen Alltag, eine Situation, in der sich der Körper und Geist beim Nichtstun erholen kann und im Idealfall entspannter und mit einem freieren Kopf wieder nach Hause kommt.
Ich rede vom Reisen. Für mich persönlich ist das ein großer Unterschied. Warum reisen wir also?
Klar, es geht darum, neue Orte kennenzulernen, neue Menschen, neue Kulturen, neues Essen und neue Sprachen. Im wahrsten Sinne des Wortes den „Horizont zu erweitern“, wie man so schön sagt.
Manchmal geht es allerdings nicht einfach nur darum, andere und anderes kennenzulernen. Es geht natürlich ums Suchen, aber diese Suche führt einen letztendlich zum eigenen Finden. Es gibt nur wenige Situationen, in denen man sich selbst so gut kennenlernt wie auf Reisen. Das weiß jeder, der schon mal sein Zuhause verlassen hat, und zwar nicht, um „Urlaub“ zu machen, sondern durch dieses Fernweh getrieben wurde. Urlaub ist in meinen Augen Erholung. Von einer richtigen Reise braucht man im Gegensatz dazu eher eine nachträgliche Erholung, eine kleine, mentale Auszeit, um alle Erfahrungen zu verarbeiten.
Irgendetwas ist es, was uns immer wieder so weit in die Welt treibt, weg von der Bequemlichkeit unseres normalen Lebens und von unserem geordneten Alltag.
Die Suche nach dem absoluten Gefühl der Freiheit vielleicht, diese Fernweh – eine Sehnsucht eben nach dem, was sich nicht fassen lässt, die Suche nach dem Noch-nie-Erlebten, neuen Abenteuern, neuen Situationen und der Neugier, wie man in diesen Situationen reagiert. Und durch diese Suche finden wir uns selbst, lernen uns selbst ganz neu kennen. Es ist irgendetwas, was uns unser Zuhause und die Vertrautheit nicht geben kann.
Was mich beim Reisen immer wieder traurig macht, ist die Tatsache, dass man viele Orte und Menschen kennenlernt, sich emotional an etwas oder jemanden bindet und dennoch weiterreist und alles hinterlassen muss. Ja, einige neu gewonnenen Freunde bleiben, an einige Orte wird man zurückkehren.
Aber vieles und viele sieht man nur einmal im Leben, bestimmte Momente kann man nicht wiederholen.
Manchmal ist das allerdings genau der Reiz des Reisens: dieses einmalige, intensive Erleben. Gespräche mit Fremden, die man nie wiedersehen wird, können sehr bereichernd sein. Man kann sich seine Gedanken von der Seele reden ohne spätere Konsequenzen fürchten zu müssen.
Im Bus von Guayaquil nach Ibarra habe ich mich mit einem ecuadorianischen Studenten unterhalten. Wir sind sehr schnell auf tiefere Themen gekommen als nur das Wetter. Wir redeten über das Leben, Reisen, ob wir glücklich in unserem Leben sind, was wir erreichen wollen. „Vermisst du deine Familie nicht?“, fragt er. „Was treibt dich eigentlich an, so weit zu reisen, dein Zuhause zu verlassen? Warum machst du das eigentlich?“
Natürlich vermisse ich meine Familie. Sehr sogar, und meine Freunde, mein Zuhause, vielleicht auch ein bisschen meinen deutschen Alltag und definitiv das deutsche Essen. Wie viel würde ich nach einem Jahr konsequenter (aber eher unfreiwilligen) Fisch-, Hühnchen- und Reisernährung für ein Stückchen richtigen Käse oder eine Scheibe Schwarzbrot geben? Viel. Sehr viel.
Und trotzdem – ich weiß, wie wichtig diese Reise, diese Zeit, für mich ist. Vielleicht ist mir bewusst geworden, dass das ganze Leben eine nie endende Reise ist. Und in dieser nie endenden Reise war dieses Jahr bis jetzt das lehrreichste meines Lebens.
‚Wir sind Diamanten, geschliffen vom
Leben, von Momenten und Erlebnissen, von Menschen und Orten, von weiten Reisen und unserem nahen Alltag.‘
Dieses Jahr hat mich so geschliffen wie noch nie ein Jahr zuvor.
Ich weiß nicht, ob man meine Gedanken, die ich hier niederschreibe, irgendwie nachvollziehen kann. Ich hoffe nicht, dass sie falsch rüberkommen, denn ich weiß nicht genau, wie ich sie in Worte fassen kann.
Eine der wichtigen Sachen, die ich in den letzten Monaten gelernt habe, ist, dass hinter jeder Person eine Geschichte steckt.
Jeder hat Gründe, warum er so ist, wie er ist. Warum er das tut, was er tut, das sagt, was er sagt, das denkt, was er denkt.
Es gibt absolut immer Gründe, warum Menschen so sind, wie sie sind.
Das ist keine sonderlich neue Erkenntnis, es ist eigentlich sehr offensichtlich. Aber mir ist das hier klarer geworden als je zuvor. Bevor man Menschen oder deren Handlungen be- oder verurteilt, sollte man sich dessen bewusst werden.
Ich habe in Ecuador viele Geschichten erfahren, habe die verschiedensten Leute kennengelernt, von flüchtigen Bekanntschaften bis hin zu sehr tiefen Freundschaften.
Je mehr mir die Person aus ihrem Leben erzählt hat, desto mehr hat sich ein Bild ergeben, haben sich manche Puzzleteile zusammengefügt. Das ganze Puzzle wird man vielleicht nie lösen können. Dafür ist der Mensch an sich zu komplex. Aber wenn man versucht, der Person zuzuhören, erfährt man so viele wunderbare Kleinigkeiten aus dem Leben des jeweiligen Menschen.
Man fängt an zu verstehen, warum diese Person auf eine bestimmte Art und Weise denkt und handelt, warum sie diese oder jene Ängste und Träume hat. Und ich glaube, je mehr man reist, desto mehr versteht man das. Es werden einem die Augen geöffnet, ganz andere Denk- und Sichtweisen können sich einem erschließen, wenn man sich nur traut, seinen Alltag und das eigene vertraute Heimatsnest zu verlassen und sich in die Ferne zu stürzen.
„Was treibt dich eigentlich an, warum machst du das eigentlich?“
Ich weiß nicht genau, was mich antreibt.
Vielleicht einfach nur, die Schönheit der Welt mit eigenen Augen zu erfassen. Meine eigenen Erfahrungen zu machen, ob gute oder schlechte. Verschiedene Kulturen und Lebensweisen kennenzulernen, unterschiedliche Menschen mit ihren Geschichten. Mich selbst kennenzulernen. Jetzt habe ich die Möglichkeiten dazu, wenn nicht jetzt, wann dann?
Und das Ziel auf dieser Reise durch das kunterbunte Leben ist unbestimmt. Das Ziel dieser Reise ist das kunterbunte Leben selbst.
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Ich weiß, dass meine klassischen Blogeinträge ausbleiben.
Mit der Zeit hat sich einiges verändert. Sehr viele wunderbare und auch manche nicht so wunderbare Dinge sind passiert. Einige davon kann ich nicht und andere will ich nicht in Worte fassen. Manche Momente kann man eben nicht in Worte fassen.
Wöchentlich zu berichten, dass ich bis zu unserer Kolumbien-Reise im Cacique gearbeitet habe, viel Zeit mit meiner Gastfamilie, Freunden, Surfen etc. verbracht habe, wird für mich einerseits langweilig zu schreiben und für euch irgendwann langweilig zu lesen. Deshalb diese Einblicke in meine Gedanken. Für mich sind sie manchmal selbst etwas verwirrend, aber vielleicht kann sie der ein oder andere verstehen oder Teile nachvollziehen.
Fühlt euch gedrückt und passt auf euch auf. Und lasst mich ebenfalls an euren Gedanken teilnehmen.
Aufs kunterbunte Leben – que viva la vida.
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Eure Lea